Nutzung von Kameraaufnahmen zur coronabedingten Abstandsmessung und Abstandsüberwachung unterliegt der Mitbestimmung des Betriebsrats


Nutzt der Arbeitgeber Kameraaufnahmen zur Überwachung der coronabedingten Abstandsregelungen, so stehen dem Betriebsrat Mitbestimmungsrechte zu. Dies entschied das Arbeitsgericht Wesel mit Beschluss vom 24. April 2020 (Az.: 2 BVGa 4/20).

Videoüberwachung zum Zwecke der Abstandsmessung und Abstandsüberwachung

Der Betriebsrat („BR“) nahm die Arbeitgeberin wegen Verletzung seiner Mitbestimmungsrechte auf Unterlassung in Anspruch. Beklagte Arbeitgeberin war ein Logistikunternehmen mit ca. 1.630 Arbeitnehmern. Die Verarbeitung von Bildern und Videos der Arbeitnehmer war Gegenstand einer Betriebsvereinbarung („BV“) zur Installation und Nutzung von Überwachungskameras. Die BV sah vor, dass Aufnahmen der Überwachungskameras ausschließlich auf lokalen Netzwerkrecordern zu speichern sind. Die Weitergabe des Bildmaterials an Dritte war ausgeschlossen.

Im Rahmen des Projekts „Proxemics“ ermittelte die Arbeitgeberin mittels der auf dem Betriebsgelände installierten Kameras Bereiche, in denen die im Betrieb anwesenden Personen (Arbeitnehmer, Auftragnehmer, Geschäftspartner etc.) die aufgrund der Corona-Pandemie empfohlenen Sicherheitsabstände nicht einhalten konnten.

Aus Aufnahmen der im Betrieb installierten Videokameras wurden mittels einer Anonymisierungssoftware – welche auf Datenservern in Dublin, Irland arbeitet – in einem Intervall von 5 Minuten automatisierte Standbilder (sog. Raw Images) generiert. Von diesen Bildern erstellte die Software eine Kopie und versah die abgebildeten Personen mit einem Rahmen. Gleichzeitig legte die Software einen Filter über den Rahmen, der die abgebildeten Personen verpixelte.

Die Software leitete sodann die verpixelten Standbilder an die Mitarbeiter des Amazon Vision Operations Centers (AVOC-Team) weiter. Diese ermitteln anhand der verpixelten Standbilder, ob ein Sicherheitsabstand von zwei Metern eingehalten wurde. Ein Reporting Tool erfasste das Ergebnis dieser Prüfung, welches dem Geschäftsführer/Standortleiter sowie dem zuständigen Loss Prevention Verantwortlichen, der für die Sicherheit am Standort zuständig ist, täglich zur Verfügung gestellt wurde.

Bevor die o. g. Personen die verpixelten Bilder erhielten, bearbeitete die Anonymisierungssoftware diese weiter. Die Software schwärzte den Inhalt des verpixelten Rahmens vollständig. Nach der erneuten Bearbeitung waren die Umrisse und Konturen der im ersten Schritt bereits verpixelten Personen nicht mehr erkennbar.

Der BR sah sich durch das Vorgehen der Arbeitgeberin in seinen Mitbestimmungsrechten verletzt und rügte einen Verstoß gegen datenschutzrechtliche Vorschriften. Auch sei die Erhebung und Verarbeitung von Standbildern durch Dritte im Ausland nicht zulässig.

Anträge des Betriebsrats nur teilweise begründet

Das ArbG Wesel entschied, dass dem BR lediglich im Hinblick auf die Verarbeitung von Bildern und Videos und deren Übermittlung an Dritte zum Zweck der Abstandsmessung oder Abstandsüberwachung ein Unterlassungsanspruch gegen die Arbeitgeberin aufgrund eines Verstoßes gegen die Vorschriften des § 87 Abs. 1 Nr. 6 und Nr. 7 BetrVG zustehe.

Nach Ansicht des ArbG Wesel verstieß die Arbeitgeberin gegen die Regelungen der Betriebsvereinbarung, indem sie die Aufnahmen der im Betrieb installierten Überwachungskameras zum Zwecke der Bearbeitung an die auf irischen Datenservern liegende Anonymisierungssoftware übermittelte. Hierbei handele es sich um einen Verstoß gegen die Regelungen der BV – so das ArbG Wesel.

Kein Mitbestimmungsrecht des BR bei anonymisierten Daten

In wünschenswerter Klarheit stellte das ArbG Wesel fest, dass die Erhebung oder Verarbeitung anonymisierter Daten nicht der Mitbestimmung des § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG unterliegt. Denn eine Überwachung ist nur gegeben, wenn die erhobenen Verhaltens- oder Leistungsdaten einzelnen Arbeitnehmern zugeordnet werden können. Dies setzt voraus, dass die Anonymisierung dauerhaft erfolgt und nicht nachträglich wieder aufgehoben werden kann.

Da die Arbeitgeberin ihre Behauptung, wonach die vorgenommene Verpixelung der Standbilder nicht mehr umkehrbar sei, im Prozess nicht beweisen konnte, bejahte das ArbG Wesel hier einen Verstoß gegen das bestehende Mitbestimmungsrecht des BR nach § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG.

Mitbestimmungsrecht bei Regelungen zum Gesundheitsschutz nur bei Vorliegen einer konkreten Gefährdung

Das ArbG Wesel hielt fest, dass ein Mitbestimmungsrecht des BR nach § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG erst dann eingreife, wenn eine konkrete Gefährdung nach Art und Umfang entweder feststehe oder im Rahmen einer nach § 5 ArbSchG vom Arbeitgeber durchgeführten Beurteilung der Arbeitsbedingungen festgestellt würde. Mit dem Kernargument, dass die Auswertung der Standbilder eine Maßnahme der Gefährdungsbeurteilung gem. § 5 ArbSchG darstelle, bejahte das ArbG ein Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG. Die Auswertung des Bildmaterials diene gerade der Feststellung, ob überhaupt entsprechende Gefahren bestehen.

Keine andersgelagerte Beurteilung aufgrund der Corona-Pandemie

Das ArbG Wesel verneinte einen sog. Eilfall, welcher die Arbeitgeberin zu einer einseitigen Anordnung ermächtigt habe. Ebenso verneinte das ArbG Wesel das Bestehen eines Notfalls. Das ArbG Wesel argumentierte, dass die Corona-Pandemie zwar gravierenden Bedrohungen für die Gesundheit von Arbeitnehmern einhergehe, jedoch kein Notfall vorlag. Ein solcher setze eine akute Gefahr voraus, die unverzüglich abgewendet werden müsse. Die Maßnahme zur Abstandsüberwachung sei zwar geeignet und erforderlich, um die Ausbreitung des Corona-Virus im Betrieb zu vermeiden und damit den Schutz der Arbeitnehmer zu gewährleisten; allein die kontinuierliche Ausbreitung des Virus führe jedoch nicht dazu, dass er bereits als akute Gefahr für den Betrieb und damit als extremer Notfall anzusehen sei – so das Arbeitsgericht.

Berücksichtigung der Persönlichkeitsrechte der Arbeitnehmer

Im Rahmen einer abschließenden Interessenabwägung argumentiere das ArbG Wesel zudem, dass die Arbeitgeberin eine Maßnahme ergriffen habe, die gleichzeitig massiv in die Persönlichkeitsrechte der Arbeitnehmer eingreife. Die Übermittlung nicht anonymisierter Kameraaufnahmen ins Ausland verletze die Persönlichkeitsrechte der Arbeitnehmer schwerwiegend.