Ohne Bewerbung kein Annahmeverzugslohn? – Neue Rechtsprechung zum böswilligen Unterlassen des Arbeitnehmers


Obsiegt ein Arbeitnehmer im Kündigungsschutzprozess, hat er grundsätzlich einen Anspruch auf den entgangenen Lohn für die Zeit bis zur Feststellung der Unwirksamkeit der Kündigung, sog. Annahmeverzugslohn. Ein Anspruch ist jedoch nach § 11 Nr. 2 KSchG bzw. § 615 S. 2 BGB ausgeschlossen, soweit der Arbeitnehmer es böswillig unterlassen hat, sich um eine neue Beschäftigung zu bemühen. Welche „Verhaltensregeln“ gelten für Arbeitgeber und Arbeitnehmer?

Böswilliges Unterlassen

Die Frage, wann genau ein solches „böswilliges Unterlassen“ vorliegt, stellt einen wahren Dauerbrenner in der arbeitsgerichtlichen Praxis dar. Fest steht, dass eine Abwägung der widerstreitenden Interessen im Einzelfall stattfinden muss. Klare Grenzen, wann ein „böswilliges Unterlassen“ des Arbeitnehmers vorliegt, wurden bisher jedoch kaum gezogen. Insbesondere war unklar, welche Bewerbungsbemühungen Arbeitnehmern abverlangt werden können und welche Anforderungen an die Zumutbarkeit einer anderweitigen Beschäftigung zu stellen sind. In aktuellen Entscheidungen haben zuletzt das BAG sowie die Landesarbeitsgerichte Köln und Baden-Württemberg sich einiger ungeklärter Fragen annehmen müssen und neue Leitlinien vorgegeben.

Allgemeine Grundätze für die Interessenabwägung

Bei der vorzunehmen Abwägung der Arbeitgeber- und der Arbeitnehmerinteressen sind das Gebot von Treu und Glauben sowie die Berufsfreiheit des gekündigten Arbeitnehmers maßgebend zu beachten. Das Annahmeverzugslohnrisiko kann arbeitgeberseitig minimiert werden, wenn dem Arbeitnehmer vorzuwerfen ist, dass er während des Annahmeverzugs trotz Kenntnis aller objektiven Umstände vorsätzlich untätig bleibt und eine ihm zumutbare anderweitige Arbeit nicht aufnimmt oder die Aufnahme der Arbeit bewusst verhindert. Einer Schädigungsabsicht des Arbeitnehmers bedarf es aber nicht.

Wann ist eine „andere Arbeit“ zumutbar?

Das BAG betont insofern stets, dass die Zumutbarkeit der Aufnahme einer anderen Arbeit individuell und einzelfallbezogen beurteilt werden muss.

In einer aktuellen Entscheidung (BAG, Urt. v. 7.2.2024 – 5 AZR 177/23) werden nun die Reichweite und Grenzen des § 11 Nr. 2 KSchG aufgezeigt und Orientierungspunkte für die Beurteilung der Zumutbarkeit vorgegeben:

  • Niedrigeres Gehalt allein führt nicht grundsätzlich zur Unzumutbarkeit. Die Zumutbarkeitsgrenze ist allerdings erreicht, wenn das Arbeitslosengeld I höher ist als potenzielle Nettoverdienst.
  • Nicht jede Verschlechterung der Arbeitsbedingungen begründet die Unzumutbarkeit, sondern nur erhebliche Verschlechterungen.
  • Unzumutbarkeit liegt stets bei Kollisionen mit den Pflichten aus dem bestehenden Arbeitsverhältnis vor.
  • An dieser Stelle erfolgt keine Berücksichtigung sozialrechtlicher Regelungen wie § 140 SGB III, da diese vor allem auf die schnellstmögliche Beendigung des Versicherungsfalles abzielen.

Bewerbungsbemühungen des Arbeitnehmers müssen ernsthaft sein

Stellt der gekündigte Arbeitnehmer so wenige Eigenbemühungen an, dass ihm ein vorsätzliches Untätigbleiben vorgeworfen werden kann, widerspricht dies den für den Annahmeverzugslohnanspruch erforderlichen ernsthaften Bewerbungsbemühungen. Ferner gilt laut BAG: Was dem gekündigten Arbeitnehmer ohnehin von Gesetzes wegen abverlangt wird, kann ihm auch aus arbeitsrechtlicher Perspektive zugemutet werden. Daher kann vor allem die Pflicht aus § 2 Abs. 5 Nr. 2 SGB III zur Arbeitssuche zwecks Beendigung der Arbeitslosigkeit berücksichtigt werden. Nach dem BAG scheidet ein böswilliges Unterlassen jedoch regelmäßig aus, wenn sich der gekündigte Arbeitnehmer bei der Arbeitsagentur arbeitssuchend meldet und den individuellen Vermittlungsangeboten nachgeht. Dieser Grundsatz reiche jedoch nicht so weit, dass Arbeitnehmer immer zunächst die Unterbreitung eines zumutbaren Angebots durch die Arbeitsagentur abwarten dürften. Im Einzelfall könne auch die Obliegenheit begründet werden, eigenständig nach passenden Stellen zu suchen und sich auf diese zu bewerben, sofern sich passende Arbeitsmöglichkeiten auftäten. Der Arbeitnehmer muss sich aber nicht „unermüdlich um eine neue Arbeit […] kümmern“. Damit trat das BAG explizit der Ansicht des LAG Berlin-Brandenburg entgegen, das in einer Aufsehen erregenden Entscheidung (Urteil vom 30. September 2022 – 6 Sa 280/22) der Auffassung war, dass sich der Arbeitnehmer stets um eine neue Vollzeittätigkeit zu bemühen habe. Zu geringe Bemühungen können aber auch nach dem BAG zu dessen Lasten berücksichtigt werden: Als nicht ausreichend wurden die „Bemühungen“ eines Arbeitnehmers erachtet, der insgesamt über zwei Jahre arbeitslos war und sich nur phasenweise beworben hatte.

Auch der Arbeitgeber kann Stellenangebote übermitteln

In Fortführung seiner bisherigen Rechtsprechung (BAG, Urteil vom 16. 5. 2000 – 9 AZR 203/99) betonte das BAG weiter, dass auch der Arbeitgeber passende Stellenangebote übermitteln kann. Er kann den Arbeitnehmer so in „Zugzwang“ versetzen und bewirken, dass eine Obliegenheit zur Bewerbung entsteht, bei dessen Missachtung eine Anrechnung wegen böswilligen Unterlassens möglich wird.

In diesem Zusammenhang stellte das LAG Baden-Württemberg (Urteil vom 3.5.2024 Az. 9 Sa 4/24) jedoch zuletzt klar, dass der Arbeitgeber die Anrechnungsregelungen nicht zur Umgehung drohender rechtlicher Nachteile zweckentfremden darf. Es deutete die Zusendung zahlreicher Stellenanzeigen eines Arbeitgebers an einen gekündigten Arbeitnehmer vielmehr als offensichtlichen Versuch, sich der Lohnfortzahlungspflicht während des Annahmeverzuges zu entziehen.

Wie schnell muss sich der Arbeitnehmer bewerben?

Ebenfalls mit Urteil vom 03.05. 2024 befasste sich das LAG Baden-Württemberg mit dem zeitlichen Rahmen für Neubewerbungen eines gekündigten Arbeitnehmers. In dem der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt hatte sich der gekündigte Arbeitnehmer erst nach Ablauf der dreimonatigen Kündigungsfrist auf andere Stellen beworben, obwohl der Arbeitgeber bereits zuvor passende Stellenanzeigen übermittelt hatte. Der Arbeitnehmer argumentierte, dass er aufgrund des (innerhalb der Kündigungsfrist) laufenden Kündigungsschutzverfahrens ohnehin nicht anderweitig eingestellt worden wäre. Das LAG Baden-Württemberg lehnte im Ergebnis eine „Bewerbungsverpflichtung“ des Arbeitnehmers ab. Es verwies dabei auf eine frühere Entscheidung des BAG (Urteil vom 18.06.1965 Az. 5 AZR 351/64). Danach handelt ein Arbeitnehmer „im allgemeinen nicht böswillig im Sinne des § 615 S. 2 BGB, wenn er während des Annahmeverzuges des Arbeitgebers kein anderweitiges Dauerarbeitsverhältnis eingeht, das ihm die Rückkehr an den bisherigen Arbeitsplatz erschweren könnte.“ Ansonsten drohe eine unbillige Bevorzugung des Arbeitgebers: Dieser würde von allen Rechtsfolgen des von ihm zu vertretenden Annahmeverzuges weitgehend befreit, während dem Arbeitnehmer parallel zum Kündigungsschutzprozess das Durchlaufen eines oftmals mühevollen und ggf. unnötigem Bewerbungsprozesses für ein „Zwischenarbeitsverhältnis“ abverlangt wird. Das LAG betonte allerdings auch, dass es dem Arbeitnehmer nicht pauschal zustehe, die Entscheidung des Arbeitsgerichts im Kündigungsschutzverfahren abzuwarten. Schließlich könne der Arbeitnehmer meistens das neu eingegangene Arbeitsverhältnis im Falle des Obsiegens im Kündigungsschutzprozess mit der zweiwöchigen Kündigungsfrist in der Probezeit kündigen. Zudem müsse auch die Art der Tätigkeit berücksichtigt werden.

Der Zeitrahmen für Bewerbungen des Arbeitnehmers nach Ausspruch einer (fristlosen) Kündigung war auch Inhalt einer Entscheidung des LAG Köln (Urteil vom 10.10.2023 – 4 Sa 22/23). Es hielt fest, dass es maßgeblich gegen ein böswilliges Unterlassen von Bewerbungsbemühungen spricht, wenn der Arbeitnehmer wenige Wochen nach einer Kündigung eine neue Anstellung gefunden hat. Es war der Auffassung, dass der Bewerbungsprozess einige Wochen andauern dürfe und lehnte daher das böswillige Unterlassen eines Klägers ab, der erst drei Monate nach dem Zugang der fristlosen Kündigung eine neue Tätigkeit aufgenommen hatte. Es merkte allerdings auch an, dass bei besonders schnelllebigen Bereichen des Arbeitsmarktes ein kürzerer Zeitraum als drei Monate für die Aufnahme einer neuen Tätigkeit angezeigt sein kann.

Hinweis des Arbeitnehmers auf das laufende Kündigungsschutzverfahren kann zulässig sein

Unter bestimmten Voraussetzungen steht der Hinweis auf das laufende Kündigungsschutzverfahren durch den sich (weiter-)bewerbenden Arbeitnehmer ernsthaften Bewerbungsbemühungen nicht entgegen und kann vom Arbeitgeber nicht genutzt werden, um ein böswilliges Unterlassen des Arbeitnehmers zu begründen. Hier differenziert das BAG (Urteil vom 7.2.2024 – 5 AZR 177/23) wie folgt:

  • Ein ungefragter Hinweis bereits im Vorfeld des Bewerbungsgesprächs spräche nicht für ein ernsthaftes Bewerbungsbestreben. Der Arbeitssuchende habe alles zu unterlassen, was offensichtlich der Aufnahme eines Arbeitsverhältnisses entgegenstehen und den potentiellen Arbeitgeber veranlassen könnte, ihn von vorhinein nicht weiter im Bewerbungsverfahren zu berücksichtigen.
  • Im Übrigen könne es aber dem Kläger nicht zum Nachteil gereicht werden, dass er sich gegen die (unwirksame) Kündigung zu Wehr setzt und an dem Arbeitsverhältnis festhalten will. Zudem sei der Arbeitnehmer auch grundsätzlich dazu berechtigt, im laufenden Bewerbungsprozess auf das Kündigungsschutzverfahren hinzuweisen. Denn es müsse auch berücksichtigt werden, dass der neue potenzielle Arbeitgeber ein berechtigtes Interesse habe, von diesem zu erfahren.

Ähnlich entschied insofern auch das LAG Baden-Württemberg. Dieses schloss sogar nicht aus, dass der Arbeitnehmer zum Hinweis auf das laufende Kündigungsschutzverfahren im Rahmen von neuen Bewerbungen verpflichtet sein könnte.

Zu guter Letzt: Wie steht es mit der Darlegungs- und Beweislast im Annahmeverzugslohnverfahren?

Grundsätzlich trägt der Arbeitgeber für die Einwendung des böswilligen Unterlassens die Beweislast. Das BAG hat zuletzt zudem Hinweise zur Verteilung der Darlegungs- und Beweislast gegeben. Es gelten folgende Grundsätze:

Der Arbeitgeber muss darlegen, dass eine zumutbare Beschäftigungsmöglichkeit bestand. Dabei reicht es aber nicht aus, wenn Das LAG berücksichtigte zudem maßgebend zugunsten des Arbeitnehmers, dass eine Bewerbung bereits unmittelbar nach Zugang der Kündigung nur geringe Erfolgsaussichten gehabt hätte, wenn der Arbeitnehmer (berechtigterweise) offenbart hätte, dass er im Falle eines Obsiegens im Kündigungsschutzprozess an seinen alten Arbeitsplatz zurückkehren wolle. Dem gekündigten Arbeitnehmer dürfe kein „entwürdigendes Klinkenputzen“ bei anderen potenziellen Arbeitgebern durch von vorneherein zum Scheitern verurteile Bewerbungen abverlangt werden. Eine Bewerbung während des Schwebezustandes könnte zudem eine spätere ernsthafte Bewerbung bei einem Stellenanbieter beeinträchtigen. Denn der Hinweis auf den Kündigungsschutzprozess könnte den potenziellen neuen Arbeitgeber dazu veranlassen, den Bewerber nicht weiter zu berücksichtigen.

  1. er nur auf allgemeine Statistiken verweist, die keinen konkreten Bezug zu der Tätigkeit und den persönlichen Befähigungen des Klägers aufweisen.

  2. Der Arbeitnehmer hat sich dann zu den behaupteten Tatsachen wahrheitsgemäß und vollständig zu erklären.

  3. Anschließend obliegt es dem Arbeitnehmer darzulegen, dass er sich arbeitssuchend gemeldet hat und sachgerecht auf die Vermittlungsvorschläge eingegangen ist. Er hat sich bzgl. seiner Bewerbungsbemühungen näher zu erklären. Die Feststellungslast hinsichtlich der Zumutbarkeit der Vorschläge verbleibt aber beim Arbeitgeber – auch bzgl. der selbst unterbreiteten Vorschläge.

In Sonderfällen können auch Ausnahmen von diesen Grundätzen geboten sein. Dabei sind die jeweiligen Erkenntnismöglichkeiten der Parteien sowie die sozialrechtlichen Pflichten des Arbeitnehmers zu berücksichtigen.

Solche Ausnahmen kommen in Fällen in Betracht, in denen der Arbeitnehmer durch sein Verhalten das Zustandekommen eines neuen Arbeitsverhältnisses behindert oder beeinträchtigt. Dann ist der Arbeitnehmer hinsichtlich der Erfolglosigkeit einer hypothetischen Bewerbung auf eine solche Stelle darlegungs- und beweispflichtig.

(Anmerkung der Autoren: Wir danken unserer Wissenschaftlichen Mitarbeiterin Judith Purrer für Ihre Unterstützung bei dem Beitrag.)